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Kunst in der Krise:Bodenmarkierung statt Bilderflut

Großes Werk, kleine Künstler: Dozentin Vera Scherpf (Mitte), Annika Schäfer (links) und Anna Hafenmayer vor der Ausstellung im Poinger Citycenter.

(Foto: Christian Endt)

Verschärfte Corona-Regeln bedeuten das Aus für eine Ausstellung von Vera Scherpf und ihren jungen Malschülern im City Center Poing.

Von Michaela Pelz, Poing

Wer dieser Tage in Innenstädten oder Einkaufszentren unterwegs ist, trifft meist auf erschöpfte, oft sichtlich genervte Mitmenschen, die gehetzt ihre letzten Einkäufe erledigen wollen, bevor das Fest und womöglich der harte Lockdown vor der Tür stehen. Ganz anders im Poinger City Center. Zumindest bis Donnerstag konnte man dort Leute sehen, die völlig unerwartet Zeit hatten - oder sie sich nahmen, um ganz in Ruhe in den Anblick eines 4,50 Meter mal 1,60 Meter großen Urwalds einzutauchen, in sattem Grün mit leuchtend bunten Blumen und Vögeln.

Das Bild war Eyecatcher der Ausstellung "Spaß mit Acryl", die nun leider den neuesten Corona-Bestimmungen zum Opfer fällt. Wartebereiche vor den Läden müssen markiert werden, dazwischen soll Raum für Gehwege bleiben, deswegen müssen die Stellwände weichen. Acht junge Malerinnen hatten dafür 36 Bilder zuhause abgehängt und ins Einkaufszentrum gebracht - auf Initiative von Vera Scherpf. Im Hauptberuf Friseurmeisterin mit eigenem Salon, bietet sie an der Anni-Pickert-Grund- und Mittelschule schon seit mehreren Jahren immer dienstags ein zweistündiges Mal-Programm für den Ganztag an; das exotische Bild ist dabei im Sommer 2018 entstanden.

Kein Zufall. Denn in einer Hütte in einem solchen Wald in der Region von Foz do Iguaçu ist die gebürtige Brasilianerin mit neun Brüdern aufgewachsen, unweit eines Vogelparks. Darum ermuntert sie ihre Eleven oft, Papageien zu malen, oder Tukane. Zum Beispiel Anna, Teilnehmerin an einem der freien Kurse, die Scherpf außerdem in ihren eigenen Räumlichkeiten veranstaltet. "Beim Abholen schimpft sie immer: Warum bist du schon da?!", erzählt die Mutter der Achtjährigen und lacht. Vera Scherf nimmt sich viel Zeit, um alle Gemälde zu würdigen und vorzustellen. Bei jedem Satz spürt man, wie viel dieser kleinen Frau mit der großen Ausstrahlung "ihre" Kinder bedeuten, die "freiwillig zu mir kommen, nicht weil sie es müssen". Wie stolz sie deren Weiterentwicklung macht, wenn sie mit geschultem Auge ein Gespür für Schattierungen bekommen und irgendwann ihren Finger in die goldene oder weiße Farbe tunken, um eine Sonne hinzutupfen, wo früher einfach ein roter Kringel mit Strahlen gewesen wäre.

Dass diese Zuneigung auf Gegenseitigkeit beruht, zeigt sich beim Gespräch mit einigen der jungen Künstlerinnen. Annika, die inzwischen das Gymnasium Vaterstetten besucht, erinnert sich noch genau, wie das war, als zehn Kinder in fünf Wochen das zehn Meter lange Werk produzierten, das am Ende sogar geteilt werden musste, um an die Wände der Schule zu passen: "Wir haben uns immer wieder in Gruppen ausgetauscht, wie wir es machen wollen. Vera ist eine tolle Lehrerin. Mir und meinen Freundinnen hat es sehr viel Spaß gemacht." Wenn die AG nicht, wie aktuell, pausiert, ist "Dienstag der schönste Tag!" sagt Drittklässlerin Rebekka, die wie ihre Schwester Johanna für einige der generell sehr überzeugenden Exponate verantwortlich ist. "Papa hat sogar gedacht, Vera hat sie gemalt." In einem Eltern-Kind-Workshop ließ er sich eines Besseren belehren. Tatsächlich war Vera Lúcia de Fátima Machado Scherpf selbst früher einmal der Ansicht, ein "echter" Maler könne nur jemand wie Picasso oder van Gogh sein. Die Wende kommt ausgerechnet im Kindergarten ihres Sohnes, als sie erstmals eine Vernissage erlebt und sich sagt "wenn die das können, kann ich das auch!"

Kunstausstellungen kennt sie vorher nicht, sie sind kein Teil ihrer zwar sehr freien, aber auch harten Kindheit und Jugend - zur Schule führt ein Fußweg von fünf Kilometern, schon als Neunjährige muss sie sich daher mit Putzen, Spülen, Babysitten Kost und Logis im Haushalt einer Lehrerin verdienen. Trotz aller Widrigkeiten schafft sie das Abitur, studiert aber nicht, sondern arbeitet im Büro. Einige Jahre später landet die junge Frau der Liebe wegen in Deutschland. Zunächst in Speyer. Die Zeit ist hart. Sie spricht die Sprache nicht und auch die Sitten sind ihr fremd. "Alles, was man zu Hause gelernt hat, ist nichts mehr wert." Sie liebt Samba, ist es gewohnt, an jedem Ort und zu jeder Zeit laut zu singen, muss nun begreifen, dass sie das nicht machen soll. Außerdem ist sie sehr allein, fühlt sich oft einsam: "Die Leute blieben für sich, keiner hat mit mir gesprochen." Viel mehr will sie nicht erzählen, es stimmt sie traurig. "Da war ich nicht so, wie ich heute bin."

Denn eigentlich ist sie ein Mensch von ansteckender Fröhlichkeit, der nun lachend von einem weisen Ratschlag des Bruders erzählt: "Mach eine Ausbildung als Friseurin. Du wirst nicht reich, kannst aber den ganzen Tag reden." So habe sie ihren Beruf gefunden, der sie, eine zerplatzte Liebe und einige Jahre später, nach Bayern bringt. Doch die Löhne in der Landeshauptstadt sind niedrig, die Mieten hingegen sehr hoch. Sie erfährt, dass in Poing eine Friseurmeisterin gesucht wird. "Es gab 1000 Mark mehr als in München und noch eine Wohnung dazu." Und in Poing wird alles anders. Endlich ist sie angekommen, fühlt sich sofort aufgenommen, "hier bin ich ein Mensch", findet ein neues Glück und dann noch zur Malerei. Darin bildet sie sich bald weiter, macht Kurse, die sie "wie eine Therapie und ein Energiebad" empfindet. Ihre Werke stellt sie im eigenen Salon aus, die Kunden sind begeistert, wollen die Bilder kaufen.

Später bringt sie den Münchner Capoeira-Trainer ihrer beiden Kinder dazu, auch in Poing diesen afrobrasilianischen Kampftanz anzubieten, was ein voller Erfolg wird. Nun schließt sich der Kreis. Denn weil man ihre Kontakte zu der Szene schätzt, kommt es zum Kontakt mit der Ganztagsschule und schließlich zur Bitte, dort die Kinder beim Malen anzuleiten. Die Ergebnisse - Landschaften, Blumen, Tiere oder Stadtansichten, gemalt oder mit den unterschiedlichsten Collagetechniken gestaltet - können sich fürwahr sehen lassen. Bleibt nur zu hoffen, dass die Ausstellung, wie von der Betreibergesellschaft des Poinger Einkaufszentrums angekündigt, sobald es wieder möglich ist, noch einmal aufgebaut wird.

© SZ vom 11.12.2020